A. Cremer u.a. (Hrsg.): Decorum und Mammon im Widerstreit?

Cover
Titel
Decorum und Mammon im Widerstreit?. Adeliges Wirtschaftshandeln zwischen Standesprofilen, Profitstreben und ökonomischer Notwendigkeit


Herausgeber
Cremer, Annette C.; Jendorff, Alexander
Reihe
Höfische Kultur interdisziplinär
Erschienen
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Natour, Heidelberg

Die ostentative Verschwendung des frühneuzeitlichen Adels ist ein viel beschriebener Topos der Frühneuzeitforschung. Die Vorstellung, der europäische Adel habe als Teil einer standesgemäßen Lebensführung zu Repräsentationszwecken das Geld mit vollen Händen ausgeben müssen, hat sich etabliert und wird auch in diesem Band fortgeschrieben. Doch wie sieht es mit den Einnahmen aus? Die banal scheinende Frage, wie das Ganze finanziert wurde und welche Wege sich insbesondere der Adel im Laufe der Jahrhunderte neu erschloss, um Geldquellen aufzutun, sie ist so banal nicht. Der vorliegende Sammelband, der die Ergebnisse einer 2019 gehaltenen Tagung zu Ehren des Gießener Adelsforschers Horst Carl zusammenträgt und erweitert, unterstreicht die Komplexität des Ganzen. Statt einer einfachen Erzählung von Dekadenz und Niedergang des frühneuzeitlichen Adels entfaltet der Band ein Panorama unternehmerischen Handelns bzw. dem, was darunter subsumiert werden könnte. Doch wo fängt das im Titel angekündigte Wirtschaftshandeln an, wo hört hausväterliches Wirtschaften auf? Die Antwort auf diese Frage bleibt der Band letztlich schuldig, und das ist durchaus gut. Die begriffliche Unschärfe, mit der Oberbegriffe wie „Wirtschaftsengagement“ (S. 13), „Entrepreneurship“ (S. 13) oder „ökonomische Aktivitäten“ synonym gebraucht werden, birgt nämlich Vorteile. Der niedere und der höhere Adel treten als Akteure gleichermaßen hervor und die Übergänge von repräsentativem Mäzenatentum, netzwerkerischer Vorarbeit, beteiligten Experten und wohl kalkulierter Gewinnbeteiligung geraten fließend. Auf breitem Raum – mit Personenregister kommt der Band auf stolze 461 Seiten bei 17 Beiträgen, einem Vor- und einem Nachwort – erfährt der Leser ebenso viel über Unternehmungen, die grandios scheiterten, wie über Chuzpe und Geschick, mit denen adelige Akteure, soziale und ökonomische Spielräume ausnutzten und erweiterten.

Anhand der dem Band vorangestellten Leitfrage Decorum und Mammon im Widerstreit? thematisieren die Herausgeber, die Gießener Kunsthistorikerin Annette Cremer und der ebenfalls in Gießen lehrende Historiker Alexander Jendorff, das Spannungsverhältnis zwischen tradiertem Rollenverständnis des Adels, welches gewinnorientiertes Handeln „tendenziell“ (Klappentext!) negativ konnotierte, und den realen Möglichkeiten des Adels, aktiv in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen. Sie folgen damit einem Gedanken, den Barbara Stollberg-Rilinger in einem wegweisenden Beitrag in der Zeitschrift für Historische Forschung 1988 auf die Pole Handelsgeist und Adelsethos reduziert hatte, auf den beide Herausgeber in ihren Beiträgen rekurrieren (S. 30, S. 57).1 Jendorff verortet adeliges Wirtschaftshandeln als oszillierende Bewegung „zwischen verschiedenen Welten – nämlich der Welt der Ökonomie und der Standeslogik“ (S. 13). Als Folge wird von den Herausgebern nicht nur der Abgleich mit den Realitäten adeligen Wirtschaftshandels eingefordert, sondern ebenso eine breite Diskussion der Bewertung dieses Handelns.

Vier thematische Sektionen ergeben sich aus diesem Anspruch. Nach einer "Hinführung zu den Beiträgen" Jendorffs, umkreisen vier Einführungen in der gleichnamigen ersten Sektion den Untersuchungsgegenstand. Cremers Beitrag betont dabei die Vielschichtigkeit wirtschaftlichen Handelns, welches sie entsprechend weit umschreibt „im Sinne einer Investition, die einen wie auch immer gearteten Ertrag versprach, unabhängig von ihrer Rentabilität“ (S. 44). Jendorffs einführender Beitrag zielt hingegen darauf, den historiographischen Schleier der letzten zweihundert Jahre vom Komplex adeligen Wirtschaftshandels zu ziehen und anzuerkennen, dass der alteuropäische Adel „Teil jenes großen Elitenmotors, der die kapitalistische Wirtschaft entwickelte und voranbrachte“ war (S. 73). Die aktuelle Forschungsdiskussion zum Themenkomplex des Bandes, nimmt sich eingebettet in diese Erzählung entsprechend klein aus (S. 52). Ronald G. Asch fragt im dritten Beitrag dieser Sektion bei einem Streifzug durch England, Frankreich und Spanien des 17. und 18. Jahrhunderts nach dem Verhältnis von Adel und Geld. Er betont die Rolle des Adels als Kreditgeber der Krone und den Spielraum, der sich für sie über das adelige Prestige für die Aufnahme von Schulden eröffnet habe. Friedrich Lenger schließt mit einem Überblick über Kapitalismusformen, die er vom Spätmittelalter bis zur Wende des zwanzigsten Jahrhunderts ausmacht und mit Lesarten Joseph Schumpeters und Max Webers abgleicht. Seine Entscheidung, weder die Rolle des Kredits noch des Risikos erörtern zu wollen (S. 108), wirkt nach, wäre hier doch eine Brücke zur aktuellen Forschung wie zu vielen Beiträgen des Bandes zu schlagen. Er betont die substantielle ökonomische Beteiligung des Adels am Handel, dem Agrar- und dem Montanwesen im Reich, die er wider eines Modernisierungsdenkens als Konstante der Jahrhunderte ausmacht.

Der nächste Teil widmet sich der "Darstellung und Fremdwahrnehmung von wirtschaftlichen Praktiken". In einer Collage der Genueser Kaufleute anhand von Reiseberichten des 17. und 18. Jahrhunderts zeigt Matthias Schnettger, wie spezifisch eine Regionalkultur einer europäisch etablierten Tugendnorm widersprach, und als Folie für Bewunderung und Ablehnung gleichermaßen fungierte. Dynamisch zeichnet Dieter Wunder im Anschluss das Bild der hessischen Witwe und Gutsherrin Ermgard von Wehren, die er als unermüdliche „Unternehmerin“ portraitiert. Sie wusste ihr soziales Kapital gekonnt in die Waagschale zu werfen, um (zu) risikoreich und zukunftsweisend den Versuch zu unternehmen, Stahl zu produzieren. Kolja Lichy und Stephan Rohdewald thematisieren hingegen in ihren Beiträgen eine adelige Lebensführung als Voraussetzung für ökonomischen Erfolg. Lichys elsässischer Protagonist bedient sich eines Adelstitels, um seine wechselnden Expertisen auf dem Gebiet der Alchemie an den Mann zu bringen. Rohdewald schildert die Sicht der Kaufleute im Luxussegment, welche die Adaption eines adeligen Lebensstils in kaufmännischen Erfolg umrechneten. Stephan Wendehorsts Beitrag zu den Familienverträgen der deutschen Reichstände betont hingegen die ökonomischen und soziokulturellen Zwänge des Adels am regionalen Beispiel.

Ein knapper dritter Teil untersucht "militärisches Unternehmertum", die – so im Nachwort von Horst Carl – „Königsdisziplin“ (S. 447) adeligen Wirtschaftshandelns. Während die von Michael Weise dargestellten Kroatenobristen zwar typische adelige Karrierewege einschlagen, aber nur schwer als wirtschaftlich agierende Gruppe überzeugen, führt Christoph Kampmann Standeslogik und das in der Tat als unternehmerisch zu charakterisierende Denken und Handeln der Armierten im Pfälzischen Krieg zusammen. Sein Beitrag illustriert die ökonomisch erfolgreiche Balance zwischen Decorum und Mammon, wirft aber gleichermaßen dringlich die Frage historischer Konjunkturen in Bezug auf die Bedeutsamkeit adeligen Wirtschaftshandelns auf.

Die Frage der Historizität drängt sich auch bei den Beiträgen im vierten Teil des Bandes auf, der sich "Handel, Investitionen ins Land und andere[n] Risikounternehmungen" widmet. Wenn Birgit Emich in einem amüsanten Ausflug in die ruinöse Erfolgsgeschichte eines Entwässerungsprojekt der Po-Ebene zeigt, wie unter Zuhilfenahme aller sozialer und kultureller Ressourcen dieses Projekt an Land gezogen wird, wird vor allem sichtbar, mit welchen Mechanismen Entscheidungen im Kirchenstaat getroffen wurden. Siegrid Westphals fokussierter Blick auf die sächsische Klassenlotterie beschreibt ebenfalls ein ungemein zeitgebundenes Phänomen und auch die wirtschaftliche Bedeutung des Adels im Beitrag Jendorffs zu hochadeligen Kolonialisierungsprojekten des 17. Jahrhunderts scheint sich aus einem den Zeitläuften geschuldeten finanzpolitischen Vakuum zu ergeben. Die schwindende Bedeutung adeliger Wirtschaftsmacht spiegeln Annette Baumanns Ausführungen zum Konflikt zwischen der Reichsstadt Frankfurt und dem Gesamthaus Löwenstein-Wertheim über die Gewinne eines Messschiffs, der sich bezeichnenderweise erst in den 1780er Jahren zuspitzt. Hier weist der Band den Weg für zeitlich oder geographisch vergleichende Forschung, die sowohl die Logiken der frühneuzeitlichen Ökonomie2 als auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen in Konsum, Handel, Eigentum, Risiko oder Profitstreben verstärkt in den Blick nimmt, und die fruchtbare Frage nach dem Verhältnis von Dekorum und Mammon für den frühneuzeitlichen Adel vertiefen könnte.

Jendorff und Cremer ist unter Pandemiebedingungen ein lesenswerter und anregender Band gelungen, der zudem als goldene Open-Access Publikation mit Druck, Online-Format und sorgfältigem Lektorat in der Reihe des Rudolstädter Arbeitskreises punktet. Kurze Abstracts sind den Beiträgen vorangestellt, ein Personen-Index erleichtert die Handhabe der gedruckten Ausgabe. Das Ziel der Herausgeber, die diversen Möglichkeiten adeligen Wirtschaftshandels abzubilden, ist vor allem für das Reich mit vielen Fallstudien erfüllt, für Italien, Frankreich, Spanien und England sind verheißungsvolle Akzente gesetzt.

Anmerkungen:
1 Barbara Stollberg-Rilinger, Handelsgeist und Adelsethos. Zur Diskussion um das Handelsverbot für den deutschen Adel vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Zeitschrift für Historische Forschung 15/3 (1988), S. 273–309.
2 Das spezifisch Frühneuzeitliche an den beschriebenen wirtschaftlichen Unternehmungen wird in vielen Beiträgen implizit, im Beitrag von Lichy (S. 163) explizit verhandelt. Vgl. beispielhaft Craig Muldrew, The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke 1998.

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